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5.3 Die Ausbreitung der Solitonentheorie

 

 

Das rasche Wachstum der Solitonentheorie in den 60er und vor allem in den 70er Jahren, der Beginn ihrer klassischen Geschichte, wird bei Beschreibungen der Entstehung der Solitonentheorie häufig als Folge der Entdeckungen aus der jüngsten der in diesem Artikel und beschriebenen Entwicklungslinien (siehe obiges Kapitel) dargestellt: Es entsteht das Bild einer Solitonentheorie, die durch die Entdeckung der Kollisionseigenschaften der Lösungen der KdV-Gleichung und der Entdeckung der IST ihre Ausbreitung erfuhr. Hat man jedoch die gesamte frühe Geschichte der Solitonentheorie im Blick, so kann festgestellt werden, daß Solitoneneigenschaften auch schon früher an der SG-Gleichung studiert worden waren. Die Frage liegt nahe, warum die Solitonentheorie nicht schon durch die Entdeckungen an der SG-Gleichung ihre Ausbreitung erfuhr.

 

Wenn aus der heutigen Zeit zurückblickend die Geschichte der "Wiederentdeckungen" und Integration der beiden historisch bedeutendsten Solitonengleichungen - der KdV-Gleichung und der SG-Gleichung - verglichen wird, können einige Parallelen gefunden werden. Beide Wiederentdeckungen sind durch ähnliche physikalische Modelle angeregt worden: durch die Modelle eindimensionaler, diskreter Masseverteilungen. Beim FPU-Modell waren die Massen neben der linearen Kopplung durch eine quadratische Kraft verbunden (s. Gleichung 5.1). Die Kontinuisierung dieses Problems führte zur KdV-Gleichung. Beim Frenkel-Kontorova-Modell war der linearen Kopplung eine periodische Kraft überlagert (s. Gleichung 4.3). Die Kontinuisierung dieses Modells führte zur SG-Gleichung. Mit dem Kontinuumslimit des Frenkel-Kontorova-Modells war eine physikalische Anwendung einer nichtlinearen partiellen Differentialgleichung gefunden worden. Eine einzelne Lösung der SG-Gleichung war durch FRENKEL und KONTOROVA bekannt gemacht worden, - die Integration der SG-Gleichung war vor 1950 noch zu leisten. (Die Lösungen von BOUR waren unbekannt geblieben.) Ähnlich war der Stand um die KdV-Gleichung zu jener Zeit. Eine Anwendungsmöglichkeit in der Hydrodynamik sowie eine spezielle Lösung waren durch KORTEWEG und DE VRIES bekannt. Auch das Abtasten der Gleichungen in diesem Jahrhundert auf ihre Integrabilität hin verlief bei beiden Gleichungen ähnlich, nämlich durch die Anwendung störungstheoretischer Methoden. Die Lösung des Anfangswertproblems war SEEGER gut möglich, weshalb er folgerte, daß es exakte Lösungen der SG-Gleichung geben konnte und er suchte danach. Was die KdV-Gleichung betrifft, so war 1963 von JACKSON durch einen störungstheoretischen Ansatz gezeigt worden, daß das FPU-System nicht weit von einem integrablen System entfernt sein konnte. Es war zu vermuten, daß das auch für dessen Kontinuisierung - die KdV-Gleichung - galt.

 

So können sich für den heutigen Betrachter die Entwicklungen um diese beiden Solitonengleichungen in den Fünfzigern und Sechzigern dieses Jahrhunderts als eine Art Wettlauf darstellen: Welcher Gleichung würde es gelingen, als erster den Schleier, der noch um die Solitonentheorie lag, zu lüften? Mit der Auffindung der Auto-Bäcklundtransformation der SG-Gleichung durch SEEGER und der damit verbundenen Lösungserzeugung durch BIANCHIs Superpositionsprinzip schien die SG-Gleichung diesen Wettlauf gewinnen zu können. Jedenfalls lag sie weit vorne. Anwendung und Integration waren von SEEGER in Verbindung gebracht worden, der außerdem die weitreichende Bedeutung dieser Verbindung erkannte. Durch die numerischen Simulationen SKYRMEs aus dem Jahre 1962 wurde der "Vorsprung" der SG-Gleichung noch ausgebaut.

 

Trotzdem gelang es weder SEEGER noch SKYRME, genügend Mathematiker und Physiker von ihren Entdeckungen zu überzeugen. Daß dies später mit den Entdeckungen um die KdV-Gleichung anderen Wissenschaftlern gelang, ist einerseits den veränderten Umstände in der Mitte der sechziger Jahre zurückzuführen, in die die Wiederaufnahme der KdV-Gleichung fiel. Während 1953 - in der Zeit, in die die Veröffentlichung der bekannten Arbeit [SDK 1953] fiel - Anwendungen nichtlinearer Gleichungen weniger häufig waren und kaum miteinander in Verbindung gebracht werden konnten, hatten sie 1967 - zur Zeit der Entdeckung der IST - schon Einzug in manche Gebiete der Physik gehalten. Die Anwendung einer nichtlinearen Gleichung war keine "Singularität" mehr, wie es noch 1953 der Fall zu sein schien. Die Zeit war reifer für nichtlineare Gleichungen in der Physik, weshalb deren Integration mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Als ein zweiter Aspekt, der die KdV-Gleichung begünstigte, wurde von MEINEL, NEUGEBAUER und STEUDEL in ihrem Buch "Solitonen" [MNS 1991] die Verbindung zwischen der KdV-Gleichung und der wohlbekannten eindimensionalen Schrödinger-Gleichung hervorgehoben. Dieser Umstand war eine treibende Kraft und hat sicherlich mit dazu geführt, daß der IST in den sechziger oder Anfang der siebziger Jahre mehr Beachtung geschenkt wurde als der Bäcklundtransformation. Beide Integrationsmethoden wurden im gleichen Jahr - 1967 - der an nichtlinearen Problemen arbeitenden scientific community vorgestellt: die Bäcklundtransformation durch [Lamb 1967] im August und die IST durch [GGKM 1967] im September.

 

 Im Jahre 1971, also noch vor der Integration der SG-Gleichung durch die IST, wurde die große Bedeutung der SG-Gleichung als Modell für viele Anwendungen in der Physik in einem Übersichtsartikel [BEMS 1971] dargestellt. Auch auf die Methode der BT wurde hingewiesen, die durch eine weitere Arbeit von LAMB bekannt geworden war [Lamb 1971]. Die SG-Gleichung war zu dieser Zeit der KdV-Gleichung, was die Anwendung in der Physik anging, weit voraus. Trotzdem wurde die aus Sicht der Handhabbarkeit "zu ihr gehörende" Integrationsmethode - die Bäcklundtransformation - nicht weiter beachtet. Anstelle dessen wurde die Integration der SG-Gleichung durch die IST zwei Jahre später gefeiert. Auch wenn die IST das Anfangswertproblem löst und nicht "nur" eine unendliche Hierarchie von Lösungen erzeugt wie die Bäcklundtransformation, ist es doch verwunderlich, daß der Bäcklundtransformation anfangs so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, denn die IST ist für die SG-Gleichung im Gegensatz zur Bäcklundtransformation recht umständlich. Die BT und damit die geometrische Interpretation der Solitonengleichungen wurde seitens der Mathematik zunächst vernachlässigt. So kam es, daß die Verbindung der Entwicklungslinie aus der Differentialgeometrie mit den übrigen Gebieten der Solitonentheorie nicht durch SEEGER zustande kam, sondern erst später durch Arbeiten von z.B. LAMB [Lamb 1971], HERMANN [Hermann 1976], LUND [Lund 1978] und SASAKI [Sasaki 1979] allmählich erfolgte.

 

In den 70er Jahren erregte die Solitonentheorie nun allgemeines, internationales Interesse. Mit dem Eintrag in den Subject Index der Physics Abstracts wurde die Existenz der Solitonentheorie 1973 unter diesem Namen auch formell bestätigt. Es setzte bald ein "Solitonen-Boom" ein, in dessen Folge tausende Arbeiten zur Solitonentheorie entstanden. Nachdem in den Sechzigern einige Abhandlungen aus der Mathematischen und Theoretischen Physik neue Entdeckungen vorstellten, wuchs nach einer kurzen Verzögerung die Zahl der Arbeiten zur Solitonentheorie. Kurz darauf begann ein Boom und die Zahl der physikalischen Arbeiten zur Solitonentheorie begann, die mathematischen zu überflügeln. Die größte Anzahl der Publikationen erfolgte auf dem Gebiet der Physik. Die Zahl der mathematischen Arbeiten ist wesentlich geringer; die Zahl der Arbeiten, die der Chemie zuzurechnen sind, liegt dazwischen. Es macht den Eindruck, als ob die Solitonentheorie auf den Gebieten der Physik und Chemie, gemessen an der Anzahl der Publikationen, seit etwa 1975 konstant wächst. In der Mathematik hingegen ist in den 90er Jahren eine Konstanz der Anzahl der Publikationen pro Jahr mit dem Begriff Soliton(s) festzustellen. Das muß nicht unbedingt auf ein nicht wachsendes Interesse der Mathematiker an der Solitonentheorie hinweisen, sondern kann auch eine Entwicklung weg von dem Begriff Soliton bedeuten. Die Tabelle 5.1 gibt eine Übersicht über die Häufigkeit des Vorkommens der in dieser Arbeit behandelten Solitonengleichungen in modernen Publikationen. Aus der Tabelle 5.2 ist abzulesen, wie sich die modernen Arbeiten zur Solitonentheorie in experimentelle und theoretische Arbeiten aufteilen.

 

 

 

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