4. Solitonen in der Festkörperphysik
Nach der Entdeckung von solitären Wellen in der Hydrodynamik und solitonischen Differentialgleichungen im vorigen Jahrhundert nahm die Solitonentheorie in der Mitte dieses Jahrhunderts einen weiteren Anlauf durch die Entdeckung der SG-Gleichung als ein Modell in der Festkörperphysik, und zwar zuerst in der Kristallphysik. Sie beschreibt die Bewegung von wandernden Versetzungen in Kristallen, also wandernden Kristallbaufehlern. Auf diese Weise konnten Solitonenlösungen der SG-Gleichung physikalisch interpretiert und solitonische Eigenschaften studiert werden. Es war jedoch ein langer Weg bis zu einer diesbezüglichen Theorie. Den Anfang bildeten Vorstellungen, daß Fehlordnungen in Kristallen die Voraussetzung für die plastische Verformbarkeit des Festkörpers sein können. Ein Meilenstein in dieser Geschichte ist das nach seinen Entdeckern benannte Frenkel-Kontorova-Modell. Der bekannte St.Petersburger Professor für Theoretische Physik JAKOV IL'IC FRENKEL' (1894 - 1954) und seine Assistentin TATJANA ABRAMOVNA KONTOROVA (1911 - 1976) [Kurzbiographie] formulierten 1938 eine Gleichung, aus der man die SG-Gleichung durch räumliche Kontinuisierung gewinnen kann. Hier wurde die Gleichung schon im Zusammenhang mit solitären Wellen - ohne expliziten Gebrauch dieses Begriffes - gesehen. FRENKEL und KONTOROVA fanden sogar die Ein-Solitonenlösung der SG-Gleichung. Diese Untersuchungen wurden in Stuttgart von den Theoretischen Physikern SEEGER et alias Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre fortgesetzt. Während dieser Arbeit stieß ALFRED SEEGER (* 1927) [Kurzbiographie] per Zufall auf die Werke der Differentialgeometrie des letzten Jahrhunderts, die eine systematische Konstruktion exakter Lösungen der SG-Gleichung ermöglichten. Damit wurde das Phänomen der Solitonen, wenn auch noch nicht unter diesem Namen, in der Festkörperphysik etabliert.
Bemerkenswerterweise hat der Name Sinus-Gordon-Gleichung weder einen geschichtlichen noch einen sachlich richtigen Bezug. Er entstammt wohl vielmehr aus einem Scherz. Dieser bezog sich auf die äußere Ähnlichkeit der Sinus-Gordon- und der Klein-Gordon-Gleichung und den Reim von "Klein" auf das englische "sine". SIDNEY COLEMAN berichtete [Coleman 1977, S. 403], wie DAVID FINKELSTEIN ihm in einem Brief die Entstehung dieses Namens erklärte. FINKELSTEIN schrieb:
"I am sorry that I ever called it the sine-Gordon equation. It was a private joke between me and Julio Rubinstein, and I never used it in print. By the time, he used it as the title of a paper he had earned his Ph.D. and was beyond the reach of justice."
Der von RUBINSTEIN verfaßte Artikel hat den schlichten Titel "Sine-Gordon equation" [Rubinstein 1970]. In ihm gibt RUBINSTEIN allerdings in einer Fußnote an, daß der Name von KRUSKAL stamme. ROBIN BULLOUGH [Bull., Cau. 1980, S. 14] bemerkte hierzu:
"...Rubinstein ([Rubinstein 1970]) ascribes the name to Kruskal; Coleman ([Coleman 1977]) indicates otherwise, and Kruskal himself is "not quite sure" ([private Mitteilung von Kruskal an Bullough]). Whichever way, the name is certainly here to stay!"
Vor RUBINSTEINs Arbeit wurde die SG-Gleichung übrigens nichtlineare Klein-Gordon-Gleichung genannt [Scott 1969]. Doch der Name Sinus-Gordon-Gleichung sei "more precise and convenient", wie [BEMS 1971] fanden, weshalb sie und andere nach ihnen diesen Namen bevorzugten. Da die SG-Gleichung nichts mit GORDON zu tun hat, muß man den Namen leider zu den schlecht gewählten zählen.
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