2. Solitäre Wellen in der Hydrodynamik des 19. Jahrhunderts
Der Moment, als der schottische Ingenieur JOHN SCOTT RUSSELL (1808-1882) [Kurzbiographie] im August 1834 eine solitäre Wasserwelle in einem Kanal entdeckte, gilt als die Geburtsstunde der Solitonentheorie. Denn RUSSELL erkannte, daß sich dieses Phänomen wesentlich von periodischen Wellen unterschied. Er erforschte und beschrieb es sehr ausführlich. RUSSELL galt bislang als der Erste, der die solitäre Welle entdeckte. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die solitäre Welle - oder Einzelwelle - in Kanälen oder Flüssen zu jener Zeit kein ganz unbekanntes Phänomen war, nur fehlte eine explizite Beschreibung bis dato. (Eine Zwischenüberschrift des Artikels [Lib., Tou. 1976] lautet sogar: "Während eines Jahrhunders hat man die solitäre Welle beobachtet ohne sie zu beschreiben". Da eben bis heute keine Beschreibungen der solitären Welle aus diesem erwähnten Jahrhundert bekannt ist, drückt obige Überschrift wohl nur eine - wissenschaftshistorisch nicht uninteressante - Vermutung aus.)
RUSSELL selbst berichtete [Russell 1840a] über Erfahrungen mit der solitären Welle, die in Holland und in den Vereinigten Staaten in der Kanal- bzw. Flußschiffahrt zur Überwindung von Untiefen benutzt wurde. Ferner sei in der Flußschiffahrt beobachtet worden, daß der beim Treideln eines Kahns zu überwindende Widerstand ab einer gewissen Geschwindigkeit unter Umständen abnehmen konnte. Dieser Effekt wurde mit dem Vorhandensein einer durch den Kahn erzeugten, deutlich sichtbaren Einzelwelle erklärt [Fairbairn 1831], [Gibbes 1835] und von RUSSELL später ausführlich beschrieben. Daß sich der Widerstand eines in einem Kanal gezogenen Kahnes nicht nach dem Newtonschen Gesetz, d.h. quadratisch zur Geschwindigkeit des Kahnes, entwickelt, war schon 1767 von BORDA herausgefunden worden [Borda 1767]. Er schloß daraus, daß es zumindest was die Newtonsche Formel angehe, nutzlos und sogar gefährlich sei, die Theorie der Physik auf die Kunst des Schiffbaus anzuwenden [Bön., Sch. 1984]. Die Tatsache, daß sich der Wasserwiderstand nicht nach Newtons Gesetz richtete, war ein in der Wissenschaft viel diskutiertes Problem [Creighton 1817]. Und gerade dieses Problem sollte im Jahre 1834 RUSSELL zu seiner berühmt gewordenen Entdeckung führen.
Die Frage, wovon der Wasserwiderstand von Schiffen abhängt und wie er minimiert werden könnte, wurde schon im 18. Jahrhunderts gestellt. Die Antwortet darauf wurde in Experimenten gesucht. Nachdem 1768 BENJAMIN FRANKLIN (1706 - 1790) in einem kleinen Versuchsbecken die Auswirkung der Tiefe des Kanals auf den Widerstand untersucht hatte [Rouse, Ince 1957], [Lib., Tou. 1976], wurde kurz darauf in Frankreich mit Versuchen größeren Umfangs begonnen: Im Jahre 1775 wurden JEAN LE ROND D´ALEMBERT (1717 - 1783), CHARLES BOSSUT (1730 - 1814) und der Marquis DE CONDORCET [ACB 1777] von der französischen Regierung beauftragt, Versuche zum Widerstand von Booten in Kanälen durchzuführen. Für diesen Zweck wurde innerhalb eines großen Wasserbeckens ein hölzerner Kanal rechteckigen Querschnitts gebaut, dessen Tiefe durch einen beweglichen "Kanalboden" variiert werden konnte. Durch diesen etwa 22 Meter langen Kanal wurden Versuchsboote mit verschiedenen Geschwindigkeiten gezogen. Das Augenmerk wurde bei diesen Versuchen allerdings nicht auf die Wellen gelenkt, die von den Booten verursacht wurden, und so blieb die solitäre Welle unerwähnt. Ähnliche Versuche in einem Kanal führte später MARK BEAUFOY (1764 - 1827) in London durch [Beaufoy 1814, 1822]; auch hier blieb die solitäre Welle unerwähnt.
Laborexperimente speziell zur Erforschung der Wasserwellen stellten 1825 die Brüder ERNST HEINRICH WEBER (1795 - 1878) und WILHELM EDUARD WEBER (1804 - 1884) an, Professoren in Leipzig bzw. Halle [Web., Web. 1825]. Sie hatten eine 1,8 Meter lange, etwa 3 cm breite und etwa 60 cm tiefe Wanne mit Glasfenstern gebaut, um Wellen unter immer gleichen Verhältnissen beobachten und ausmessen zu können. In dieser im Verhältnis zur Tiefe sehr schmalen und kurzen Wanne kann keine solitäre Welle beobachtet werden, da sie, wegen der großen Tiefe der Wanne, die ganze Länge der Wanne ausfüllen würde. Durch diesen Umstand konnte die solitäre Welle nicht auftreten; bei günstigeren Maßen hätten die Brüder WEBER sie vermutlich entdeckt und ebenso genau beschrieben wie die oszillatorischen Wellen.
Nachdem vielfältige Experimente zur Erforschung der Wellen von d´ALEMBERT et al. bis zu den WEBERs die solitäre Welle nicht zur wissenschaftlichen Entdeckung bringen konnten, half ein Zufall in der Kanalschiffahrt. Im Jahre 1831 beschrieb W. FAIRBAIRN [Fairbairn 1831], wie sich vor einem gezogenen Kahn eine Welle aufbaute. Nach seinen Angaben vergrößerte sie sich bis zu einer Geschwindigkeit des Bootes von fünf Meilen pro Stunde, und ab fünf bis zehn Meilen pro Stunde verringerte sie sich. Das Verschwinden der Welle ging mit einer Verringerung des Wasserwiderstandes des Kahnes einher, was von Fairbairn als "very anomalous and contrary to all previous theory" bezeichnet wurde. A. BOURNE [Bourne 1835] veröffentlichte 1835 in den USA eine Erklärung dieses Phänomens: Nach LAGRANGE, so erklärte BOURNE, haben Flachwasserwellen die nur von der Wassertiefe H des Kanals abhängige Geschwindigkeit c = (gH)1/2 (s.u. Gleichung 2.1). Ein Kahn schiebe die Welle so lange vor sich her, bis seine Geschwindigkeit größer sei als die der von ihm verursachten Welle. Dann steige er auf die Welle herauf und schiebe auf diese Weise weniger Wasser vor sich her. Die Welle ihrerseits werde kleiner und verschwinde schließlich. RUSSELL selbst berichtete [Russell 1840a, S. 79f], daß unabhängig von seinen Entdeckungen die solitäre Welle auf eben solche Weise genutzt worden war:
"As far as I am able to learn, the isolated fact was discovered accidentally on the Glasgow and Ardrossan Canal of small dimensions. A spirited horse in the boat of WILLIAM HOUSTON, Esq., one of the proprietors of the work, took fright and ran off, dragging the boat with it, and it was then observed, to Mr. HOUSTON´S astonishment, that the foaming stern surge which used to devastate the bank had ceased, and the vessell was carried on through water comparatively smooth, with a resistance very greatly diminished. ... The result of this improvement was so valuable in a mercantile point of view, as to bring, from the conveyance of passengers at a hight velocity, a large increase of revenue to the Canal Proprietors. The passengers and luggage are conveyed in light boats, about sixty feet long and 6 feet wide, made of thin sheet-iron, and drawn by a pair of horses. The boat starts at a slow velocity behind the wave, and at a given signal it is by a sudden jerk of the horses drawn up on top of the wave, where it moves with diminished resistance, at a rate of 7, 8, or 9 miles an hour.
It was a natural consequence of this successful mode of transport on this one canal, that it should be immediately attempted to others, and numerous experiments were accordingly made with varying results."
Die damaligen Experimente und Beobachtungen zeigen, daß die Entdeckung der solitären Wasserwelle "in der Luft lag". Damit soll nicht gesagt sein, daß RUSSELL nur noch nach einer reifen Frucht zu greifen brauchte, die vor ihm keiner pflücken wollte. RUSSELLs besondere Leistung lag nicht in der zufälligen Beobachtung der Welle, sondern im Erkennen ihrer Bedeutung. RUSSELL hatte erstmals den Begriff der solitären Welle. Das macht ihn zu deren Entdecker. Nicht unwichtig war auch sein Beharren auf ihrer Besonderheit, allen Widrigkeiten zum Trotz. Denn spätere Versuche, RUSSELLs Welle theoretisch zu erklären, führten bis zu Behauptungen, daß es sie gar nicht geben könne [Airy 1845], [Stokes 1847]. Die noch junge Hydrodynamik hatte bis dahin keine Theorie hervorbringen können, die RUSSELLs Beobachtungen untermauern konnte, obwohl es gewisse Ansätze dazu bereits gab.
50 Jahre nachdem DANIEL BERNOULLI (1700 - 1782) 1738 mit seinem Werk "Hydrodynamica" den Grundstein der Hydrodynamik gelegt hatte, war JOSEPH LOUIS LAGRANGE (1736 - 1813) einer der ersten, der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit Wellenphänomenen grundlegend auseinandersetzte [Rouse, Ince 1957]. In "Mechanique Analytique" [Lagrange 1788] - einer Fortsetzung seines früheren Werkes "Memoire sur la théorie du mouvement des fluides" [Lagrange 1781] - behandelte LAGRANGE Wellen kleiner Amplitude an der Oberfläche eines flachen Kanals rechteckigen Querschnitts. Diese theoretische Behandlung hätte wohl eine erste Wurzel der Solitonentheorie bilden können, denn LAGRANGE hatte erkannt, daß bei nicht kleinen Wellenamplituden die zu behandelnden Gleichungen nichtlinear sein sollten, d.h. lineare Näherungen nicht ausreichten. Die exakte Behandlung der nichtlinearen Gleichungen war ihm jedoch nicht möglich, so daß er doch nur in Näherungen den einzigen Ausweg sah [Lagrange 1788, S. 512f, Übersetzung des Autors]:
"Die Integralrechnung ist noch weit von den Fähigkeiten entfernt, die es braucht, um die so komplizierten Gleichungen, um die es hier geht, lösen zu können. Und es bleibt keine andere Wahl, als diese Gleichung durch einige Einschränkungen zu vereinfachen. Wir nehmen an, daß die Flüssigkeit sich in ihren Bewegungen nur unendlich wenig über oder unter das Niveau erhebt oder absenkt, so daß in den gestellten Gleichungen die unendlich kleinen Terme zweiter und höherer Ordnung vernachlässigt werden können, d.h. daß diejenigen (Terme), die Quadrate tragen, sich auf eine lineare Form reduzieren."
Auf diese Weise gelangte LAGRANGE zu der d´Alembertschen Gleichung und damit zu der mit seinem Namen verbundenen Gleichung für die Geschwindigkeit von Flachwasserwellen:
2.1
wobei g die Schwerebeschleunigung und H die Wassertiefe bezeichnet. Diese Relation regte ihn an, einen Vergleich zwischen Flachwasser- und Schallwellen zu ziehen, indem er bemerkte, daß sich Schallwellen nach der selben Gleichung fortbewegen wenn, für H die Dicke der (homogen angenommenen) Atmosphäre genommen wird, ein Gedanke, den ein Jahrhundert später RUSSELL aufgriff.
Die Anwendung der hydrodynamischen Gesetze auf praktische Probleme war, wie LAGRANGE und vor ihm auch schon EULER vorhergesehen hatten, eine schwierige Aufgabe. Daher waren die damaligen Mathematiker, die sich mit der Hydrodynamik beschäftigten, immer wieder darauf angewiesen, so lange vereinfachende Annahmen zu machen, bis das behandelte Problem lösbar wurde [Rouse, Ince 1957]. D´ALEMBERT zeigte dazu folgende Einsicht (Übersetzung des Autors aus [Giacomelli 1934]):
"Wenn eine Frage, die wir untersuchen möchten, mit all ihren Elementen zu einer zu komplizierten analytischen Form führt, so isolieren wir die mehr unangenehmen Elemente und ersetzen sie durch angenehmere. Und dann sind wir überrascht, trotz all unserer mühsamen Arbeit ein Resultat zu erhalten, das der Natur widerspricht; als ob alles Verändern, Vereinfachen, Verstümmeln durch bloßes mechanisches Räsonieren rückgängig gemacht werden könnte."
Wie bei LAGRANGE, der die Flachwasserwellen nicht kleiner Amplitude wegen der damit verbundenen komplizierten Gleichungen nicht behandeln konnte, zieht sich das Problem der intraktiblen Gleichungen und unkorrekten Näherungen wie ein roter Faden durch die frühe Geschichte der Solitonentheorie. Meinungsverschiedenheiten um die von RUSSELL beschriebene solitäre Welle waren unter anderem die Folge. Und es war ein langer und mühsamer Prozess, zu einem Konsens zu kommen, d.h. zu einer akzeptierten Theorie der solitären Welle. An ihm beteiligten sich nicht wenige der namhaftesten Mathematischen Physiker des 19. Jahrhunderts, unter ihnen AIRY, STOKES, LORD RAYLEIGH, BOUSSINESQ und SAINT-VENANT.
Weiter mit Kapitel 2.1: Russells Entdeckung der "solitären Welle"