[Inhaltsverzeichnis]

 

2.1 Russells Entdeckung der "solitären Welle"

 

 

Im Jahre 1834 hatte der gerade 26 Jahre alte JOHN SCOTT RUSSELL schon eine interessante universitäre Karriere hinter sich (siehe Kurzbiographie). Ab 1830 hatte er sehr geschätzte Vorlesungen über Mathematik und Naturwissenschaften am Royal College of Surgeons gehalten. Gleichzeitig konstruierte er dampfgetriebene Wagen, die den Omnibusverkehr zwischen Städten aufnahmen. Als die Scottish Steam Carriage Co. 1833 eine Omnibuslinie zwischen Edinburgh und Glasgow in Erwägung zog, bekam RUSSELL von der Union Canal Company, die den Schiffsverkehr zwischen Edinburgh und Glasgow unterhielt, das Angebot, ihren Kanal auf die Befahrbarkeit durch schnellere Dampfschiffe hin zu untersuchen [Emerson1977]. [Bull., Cau. 1980] erwähnen in diesem Zusammenhang: "There seems to have been no contract, but the Union Canal Company paid the expenses - according to their report of 27th January, 1835: Report on the practical results of experiments on Canal Navigation (Canal Office, Edinburgh)."

 

Durch diese Aufgabe fand RUSSELL zu dem am meisten beachteten Teil seines Lebenswerks, der Konstruktion von Schiffen.

Ab 1834 machte RUSSELL, meist im Union Canal, aber auch in anderen Kanälen [Russell 1840a], Experimente größeren Stils zur Erforschung des Wasserwiderstands von Schiffen mit dem Ziel, die Schiffsform des geringsten Widerstands zu finden. Wie schon andere vor ihm, stellte er schnell fest [Russell 1834, 1835a, b], daß der Widerstand eines Kahnes im Wasser eines Kanals sich nicht so verhielt, wie es das Newtonsche Gesetz der Reibung vorhersagt. Da es in der theoretischen Hydrodynamik keine weiteren Ansätze zur Beschreibung des Widerstandes gab, machte RUSSELL es sich zur Aufgabe, das Widerstandsverhalten von Schiffen im Wasser zu erforschen. Er beobachtete, daß der Widerstand der Boote bei größerer Geschwindigkeit sogar geringer sein konnte als bei kleinerer und führte das, wie auch schon Forscher vor ihm [Challis 1833], auf das mit der Geschwindigkeit zunehmende Auftauchen des Schiffskörpers aus dem Wasser zurück [Russell 1834]. Im Sommer 1834 unternahm er zahlreiche Experimente mit Kähnen vieler Größen, um das Widerstandsverhalten im Wasser in Gesetze zu fassen, was ihm jedoch nicht gelang. Denn bei höheren Geschwindigkeiten tauchten die gezogenen Kähne nicht aus dem Wasser auf, sondern wurden eher im Wasser begraben (s. Abb. 2.1). Außerdem verhielt sich der Widerstand in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit und dem Kanalsegment, in dem die Experimente stattfanden, zu unterschiedlich.

 

 

 

 

 

Abbildung 2.1:

Wellenbildung eines bewegten Bootes im Kanal. (Zeichnung aus [Russell 1840a].)

 

 

Daß die schon entdeckte, vor dem Kahn sich aufbauende Welle, in diesem Zusammenhang die Schlüsselrolle spielte, war RUSSELL bis dahin noch unbekannt. Während eines seiner vielen Experimente am Kanal jedoch machte der Zufall ihn, wie schon die Entdecker vor ihm, auf die Welle aufmerksam [Russell 1840a, S. 61]:

 

"In directing my attention to the phenomena of the motion communicated to the fluid by the floating body, I early observed one very singular and beautyful phenomenon, which is so important, that I shall describe minutely the aspect under which it first presented itself. I happened to be engaged in observing the motion of a vessel at a high velocity, when it was suddenly stopped, and a violent and tumultuous agitation among the little undulations which the vessel had formed around it, attracted my notice. The water in various masses was observed gathering in a heap of a well-defined form around the centre of the length of the vessel. This accumulated mass, raising at last a pointed crest, began to rush forward with considerable velocity towards the prow of the boat, and then passed away before it altogether, and retaining its form, appeared to roll forward alone along the surface of the quiescent fluid, a large, solitary, progressive wave. I immediately left the vessel, and attempted to follow this wave on foot, but finding its motion too rapid, I got instantly on horseback and overtook it in a few minutes, when I found it pursuing its solitary path with a uniform velocity along the surface of the fluid. After having followed for more than a mile, I found it subside gradually, until at length it was lost among the windings of the channel. This phenomenon I observed again and again as often as the vessel, after having been put in rapid motion, was suddenly stopped; and the accompanying circumstances of the phenomenon were so uniform, and some consequences of its existence so obvious and important, that I was induced to make The Wave the subject of numerous experiments."

Dies ist RUSSELLs zweite Beschreibung des Augenblicks seiner Entdeckung. Die erste, nicht ganz so bildhafte Beschreibung findet sich in [Russell 1837b]. Es gibt in seinen Arbeiten noch weitere, ähnliche Beschreibungen dieses Augenblicks [Russell 1844, 1865, 1885].

Es wird behauptet, das die solitäre Welle erzeugende Boot sei auf ein unter Wasser liegendes Hindernis gefahren und deshalb abrupt abgebremst worden [Buch., Ger. 1991]. In RUSSELLs Arbeiten findet sich keine solche Beschreibung.

 

In [Russell 1881] beginnt Russell mit: "Short history of the wave of translation discovered by me in 1832-3." Die Jahreszahl widerspricht mehreren seiner früheren Angaben, die das Jahr 1834 nennen, und es ist zu vermuten, daß RUSSELL sich bei der Angabe "1832-3" geirrt hat.

 

RUSSELL bemerkte sehr schnell, daß die Welle ohne ihre Form zu verändern durch den Kanal lief, also eine sich fortbewegende Einzelwelle blieb. Er nannte sie daher zuerst "solitary wave". Auch die unveränderte Geschwindigkeit und Höhe der Welle war ihm aufgefallen, wobei er das langfristige Kleinerwerden der Welle durchaus bemerkte und ganz richtig auf Energieverluste im Kanal zurückführte. Schon diese ersten Merkmale machten die Welle für RUSSELL so besonders und hoben sie aus allen anderen, bekannten Wellenformen hervor. Diese Entdeckung konnte auch zur Frage nach dem Widerstand von Schiffen in Kanälen beitragen, denn RUSSELL erkannte schnell, daß diese seine solitäre Welle nicht nur konstante Form besaß, sondern auch eine nur von der Form und Tiefe des Kanals abhängige Geschwindigkeit. Anhand der vielen Experimente in Kanälen konnte RUSSELL die schon früher erkannten, aber bis dahin unverstandenen Anomalien des Widerstandes von Schiffen in Kanälen und dessen Abweichungen vom Newtonschen Gesetz wie BOURNE erklären. Die Geschwindigkeit, bei welcher der Widerstand des Schiffes ein Maximum erreichte und der sogar manchmal nicht zu überwinden war (Punkt y in Abb. 2.2), entsprach der Geschwindigkeit der solitären Welle. Erreichte das Boot die Geschwindigkeit der Welle und konnte sie überwinden, so "kletterte" es auf die Welle und fuhr nun waagerecht auf der Welle durch den Kanal, ohne viel weiteres Wasser vor sich her zu schieben, mit der Folge, daß der Widerstand des Bootes abnahm (s. Abb. 2.3).

 

 

 

 

Abbildung 2.2:

Widerstand eines Schiffes in einem Kanal in Abhängigkeit von seiner Geschwindigkeit (Zeichnung aus [Russell 1840a]). Die eng gestrichelte Linie AP stellt das Newtonsche Gesetz dar, die Linie AM1 E den Widerstand eines Schiffes im offenen Gewässer und die Linie AWmM2 R den Widerstand im Kanal.

 

 

 

 

Abbildung 2.3:

Wellenbildung eines bewegten Bootes im Kanal. (Zeichnung aus [Russell 1840a].)

 

 

Für die Kanalschiffahrt war es nun von Interesse, die Geschwindigkeit der Welle zu bestimmen. RUSSELLs Bemühungen zielten darauf ab, sie in Gesetze zu fassen, was ihm zuerst Schwierigkeiten bereitete. Denn sie hing, wie er später feststellte, von der Form des Kanalprofils ab und nicht von der Geschwindigkeit oder Form des auslösenden Bootes. In Experimenten stellte er 1834 zuerst fest, daß sie von den zwei Größen, der Kanaltiefe H und der Wellenamplitude h, abhing [Russell 1840a]. Er kam rein empirisch zu einem Ausdruck für die Geschwindigkeit der solitären Welle, nämlich

 

(2.2)

 

 

Diese Gleichung ist eine Modifikation der Gleichung von LAGRANGE (Gleichung 2.1). RUSSELL war LAGRANGEs grundlegende Arbeit über Wellen bekannt und er äußerte 1844, daß sich die von ihm gefundene Geschwindigkeit der Welle gut mit LAGRANGEs Gleichung verträgt. Das legt es nahe, daß RUSSELL sein Resultat an LAGRANGEs anlehnte, die Amplitude h der Welle, wie es die Ergebnisse seiner Experimente verlangten, einfügte und so zu seiner Formel kam. Die neuen Erkenntnisse trug RUSSELL 1835 der British Association for the Advancement of Science vor, die in dem Jahr gerade in der Stadt Edinburgh, in deren Nähe er seine Experimente machte, ihre Jahrestagung abhielt. Mit seinem Beitrag gelang es ihm, auf der wichtigsten wissenschaftlichen Tagung des Landes vor bedeutendem Publikum großes Interesse für Studien an Wellen zu erregen [Emerson 1977].

 

Bis dahin war allerdings die Frage nach der Rumpfform des geringsten Widerstandes noch nicht geklärt. Um sie zu klären, lenkte RUSSELL seine Aufmerksamkeit auf die von den Booten auf das Wasser übertragene Bewegung und die damit entstehende Wasserbewegung. Er tat Apfelsinen ins Wasser des Kanals, um Wasserteilchen zu simulieren. Er wollte damit sichtbar machen, wie sich das vom Boot verdrängte Wasser bewegte [Emerson 1977]. Das Boot, theoretisierte er, pflügte eine Rinne in das Wasser so tief und breit wie das Boot selber. Aber was geschah mit dem verdrängten Wasser? Wurde es zusätzlich vor dem Boot hergeschoben wie es die solitäre Welle nahelegte? Eine Antwort, so dachte er, konnte vielleicht eine kleine Menge Wasser geben, die einem ruhenden Gewässer zugegeben wurde. Daher konstruierte RUSSELL noch 1834 einen kleinen künstlichen Kanal, ein Fuß breit, ein Fuß tief und 20 Fuß lang, den er 1/2 Fuß hoch mit Wasser füllte. Ein Experiment mit dieser Wanne schilderte RUSSELL so [Russell 1865 S. 213]:

 

"I made a little reservoir of water at the end of the trough, and filled this with a little heap of water, raised above the surface of the fluid in the trough. The reservoir was fitted with a movable side or partition; on removing which, the water within the reservoir was released. It will be supposed by some that on the removal of the partition the little heap of water settled itself down in some way in the end of the trough beneath it, and that this end of the trough became fuller than the other, thereby producing an inclination of the water´s surface, which gradually subsided till the whole got level again. No such thing. The little released heap of water acquired life and commenced a performance of its own, presenting one of the most beautyful phenomena that I ever saw. The heap of water took a beautyful shape of its own; and instead of stopping, ran along the whole length of the channel to the other end, leaving the channel as quiet and as much at rest as it had been before. If the end of the channel had just been so low that it could have jumped over, it would have leaped out, disappeared from the trough, and left the whole canal at rest just it was before.

 

This is a most beautyful and extraordinary phenomenon; the first day I saw it was the happiest day of my life. ... When I described this to John Herschel, he said, "It is merely half of a common wave that has been cut off". But it is not so, because the common waves go partly above and partly below the surface-level; and not only that, but its shape is different. Instead of being half a wave, it is clearly a whole wave, with this difference, that the whole wave is not above and below the surface alternately, but always above it. So much for what a heap of water does; it will not stay where it is, but travels to a distance."

 

RUSSELL begeisterte sich so für seine Entdeckung, daß er in den Sommern der Jahre 1834 und 35 in seiner Freizeit zahllose Experimente in dem ihm zur Verfügung stehenden Union Canal machte. Eine Illustration seiner Experimentierfreude mag die folgende Schilderung geben [Russell 1865, S. 214]:

 

"... I took vessels on a large scale, and had them dragged by horses, and in other ways, through the water; and I ascertained, by positive measurement and observation, what became of all the water displaced by the bow of the boat. I had the traffic of a very large canal, some thirty miles long, placed at my disposal; and I will tell you a phenomenon which I produced again and again: I drew so large a number of boat one way on one day along that canal, that the successive waves carried a great part of the water of the canal entirely from one end of it to the other; and we found in the evening the canal at the far end eighteen inches deeper, and at the other eighteen inches shallower, than its normal depth. We thus proved that the water excaved out of the canal by each of the boats had been send to the other end of the canal."

Der Umstand, daß die von den Kähnen erzeugte solitäre Welle einen Transport von Wasser durch den Kanal bewirkte, veranlaßte RUSSELL, den Ausdruck "the solitary wave of translation" für seine Welle zu prägen. Mit diesem Ausdruck hob RUSSELL die beiden sofort sichtbaren Eigenschaften seiner Welle hervor, die sie von oszillatorischen Wellen ohne Transporteigenschaften unterschied. Im Laufe der Jahre bis 1844, in denen sich RUSSELL mit der Erforschung von Wellen beschäftigte, verwendete er meist den Namen "wave of translation" anstelle von "solitary wave". Da deren sichtbarstes Charakteristikum aber die einzelne Welle war, nannte er sie auch "solitary" als Adjektiv: "the solitary wave of translation", neben anderen, selteneren Bezeichnungen wie "the great wave" oder "the primary wave of first order" sowie Kombinationen. RUSSELL hatte alle Wasserwellen in vier Kategorien geteilt. Die Kategorie, zu der er neben der solitären Kanalwelle auch die Gezeitenwelle rechnete, bildete die erste Kategorie. Daher die Bezeichnung "of first order". Die Beschreibung dieser Kategorien findet sich in [Russell 1840a] und bei [Bullough 1988].

 

Schon 1834 begann RUSSELL mit der Konstruktion dreier Stahlschiffe, 20 m und 40 m lang, für Versuchszwecke, die die Union Canal Co. in einer Werft in Greenock bei Liverpool bauen ließ. Ihre neue Rumpfform, die sich durch einen spitzen Bug und eine Wasserlinie in Form der solitären Welle auszeichnete, zeigte sich in Kanälen so überlegen gegenüber den traditionellen Rumpfformen, daß 1836 ein viertes Schiff folgte und bald darauf mehrere weitere. In den darauffolgenden Jahren setzte sich RUSSELLs Rumpfform im Schiffbau allgemein durch. RUSSELLs Erkenntnisse über die solitäre Welle und die mit ihr verbundene Erklärung des Wasserwiderstands von Schiffen konnten die Möglichkeit zu einer wesentlichen Verbesserung der Kanalschiffahrt schaffen. Das bewog RUSSELL, die wichtigsten Ergebnisse seiner Experimente praxisbezogen für den Schiffbau, insbesondere für die Formgebung des Rumpfes, zu veröffentlichen [Russell 1836], [Russell 1837a], [Russell 1840b]. Diese Ergebnisse stellte er auf einer Versammlung der British Association im August 1836 in Bristol vor. Der amtierende Präsident der Association, der Marquis of Northumberland, gratulierte RUSSELL und erklärte, daß er sich der Dankbarkeit der Nation für seine Experimente sicher sein konnte. Knapp ein Jahr später veröffentlichte RUSSELL die Ergebnisse von 1834 und 35 mit ausführlichen Kommentaren und Zeichnungen [Russell 1840a]. Dieser Artikel von ihm über den Reibungswiderstand von Schiffen wurde mit der Goldmedaille der Royal Society of Edinburgh ausgezeichnet. RUSSELL wurde Mitglied der Society und "Member of Council" [Emerson 1977].

 

Die Erforschung von Wasserwellen bekam mit RUSSELLs Entdeckungen so großen Stellenwert, daß auf jener Versammlung der Association 1836 in Bristol das "Committee of Waves" ins Leben gerufen wurde. Es hatte die Aufgabe zu erforschen, was eine Welle ist und inwiefern sich Meereswellen von der Gezeitenwelle, also Ebbe und Flut, unterscheiden [Russell 1837b]. Das Committee bestand aus dem Sekretär der Royal Society of Edinburgh Sir JOHN ROBISON, der RUSSELL schon 1834 durch seinen Einfluß größere Experimente am Union Canal ermöglicht hatte, und RUSSELL selber, wobei RUSSELL allein zuständig war für die Durchführung der Experimente und das Vortragen der Ergebnisse. Obwohl er nicht ausschließlich an seinen Experimenten zu Wellen arbeitete - es wird gemutmaßt, daß er zu dieser Zeit mehrere Schiffsbauten auf der Werft in Greenock beaufsichtigte [Emerson 1977] - begann er schon im September 1836, im Monat nach der Gründung des Committees, mit sehr ausführlichen Experimenten zur Gezeitenwelle am River Dee bei Chester. Im Oktober 1836 stellte er zwei Wochen lang Beobachtungen zu Meereswellen von einer Segelyacht aus an und vermaß im April/Mai 1837 mit der ihm eigenen Gründlichkeit wiederum Gezeitenwellen, diesmal im sehr unregelmäßigen River Clyde bei Glasgow. Anschließend machte er im August 1837 Experimente mit solitären Wellen in seinem künstlichen Becken, von denen er 149 zur Auswertung veröffentlichte [Russell 1840a]. Ab 1838 war RUSSELL an der Werft von Thomson & Spiers in Greenock für die Konstruktion von Schiffen zuständig. Trotzdem widmete er sich mit viel Energie weiterhin der Forschung. Neben seinen Aufgaben in dem "Committee on the Form of Ships" der British Association, für das er 1843 einen Abschlußbericht mit etwa 20.000 Beobachtungen bei Experimenten mit über 100 verschiedenen Schiffen vorlegte, führte er Forschungen über Gezeitenphänomene [Russell 1842b], Dämme, Wellen und Wellenbrecher zur Uferbefestigung durch. Gleichzeitig vollendete er einen Artikel in der Encyclopaedia Britannica über Dampfmaschinen und Dampfschiffahrt. 

(Eine Auflistung von wissenschaftlichen Arbeiten RUSSELLs ist in [Bull., Cau. 1980] zu finden.)

 

RUSSELL war 1840 nach London gezogen; es ist nicht ganz klar, warum. Vielleicht suchte er weitere Betätigungsfelder, die er in dem kleinen Hafenstädtchen Greenock nicht fand [Emerson 1977]. Er wurde Redakteur der Londoner "Railway Chronicle", einem Kind der gerade beginnenden großen Epoche der Eisenbahnen. Seine Pflichten im Committee of Waves, dessen einziges Mitglied er war - Sir ROBISON war 1838 gestorben - veranlaßte ihn, noch einmal zu abschließenden Forschungen über Wellen zurückzukehren. Er machte zahlreiche Versuche in langen Wannen verschiedener Formen und Profile mit dem Ziel, die früher gefundenen Ergebnisse zur solitären Welle abzusichern und zu ergänzen und jegliche Unklarheiten zu beseitigen. Im Jahre 1844 legte RUSSELL der British Association den Abschlußbericht des "Committee of Waves" vor, der seine Forschungsergebnisse von 1834 bis 1844 über Wellen zusammenfaßt [Russell 1844]. Dieser Report unterscheidet sich nur in der Genauigkeit der Ausführungen und in Details von den früheren Reports [Russell 1837b, 1840a, c, 1842a], die RUSSELL schon vor der Association abgegeben hatte. RUSSELL hatte in den zehn Jahren der Erforschung von Wellen hunderte von Experimenten in Kanälen, Wannen und Flüssen (zu Gezeiten) zur solitären Welle gemacht, so daß ihm kaum ein sichtbares Detail verborgen bleiben konnte. Seine mathematischen Fähigkeiten waren allerdings eher schwach ausgeprägt, weshalb die mathematisierten Erklärungsversuche in seinen Arbeiten in der Regel nicht weit führen. Sein Ansatz zur Erklärung des Phänomens ist daher ein ganz anderer als der heute gewohnte über die Korteweg-de Vries-Gleichung (KdV-Gleichung). RUSSELL hat einerseits mehr gesehen, als es nur über die KdV-Gleichung möglich ist, andererseits sind ihm Dinge, die in der Natur nicht direkt zu beobachten sind, verborgen geblieben. Sofort bei seiner Entdeckung der solitären Wasserwelle im Jahre 1834 waren ihm zwei Merkmale aufgefallen: die Form einer einzelnen Welle und ihre Unveränderlichkeit. Sehr schnell danach entdeckte er ihre Transporteigenschaften. Erst nach einigen weiteren Forschungsarbeiten kam er dann zu der konstanten Geschwindigkeit. Die in Gleichung (2.2) angegebene Geschwindigkeit bezeichnete er als eine der Grundeigenschaften der Welle. Und die Richtigkeit der Gleichung war 1844 für ihn durch Experimente genau und zweifelsfrei erwiesen. Die für Solitonen so bedeutende Kollisionseigenschaft beobachtete RUSSELL auch, jedoch konnte er sie nicht als Besonderheit einordnen. Er schrieb 1836 [Russell 1837b, S. 425]:

 

"The great primary waves of translation cross each other without change of any kind in the same manner as the small oscillations produced on the surface of a pool by a falling stone."

Diese ja nicht ganz richtige Beobachtung, denn RUSSELL übersah die Phasenverschiebung der solitären Wellen, schien ihm selbstverständlich. Daß diese Eigenschaft schon aufgrund der von der Wellenamplitude abhängigen Geschwindigkeit der solitären Welle, die RUSSELL 1836 schon erkannt hatte, nicht selbstverständlich ist, fiel ihm nicht auf. RUSSELL hat viele Versuche gemacht, in denen er solitäre Wellen kollidieren ließ.

 

 

 

 

Abbildung. 2.4:

Aus [Russell 1844, Plate 52] entnommene Darstellungen. Mehrere solitäre Wellen laufen durcheinander durch und führen zum Brechen der Welle (Fig.1) oder sie trennen sich in einzelne solitäre Wellen (Fig.2).

 

 

Zwei dieser Versuche hatten deutlich zum Ergebnis, daß die solitären Wellen sich nicht linear überlagerten [Russell 1844]: In einem Versuch ließ RUSSELL zwei gleich große positive solitäre Wellen gegeneinander laufen. Wenn sie sich linear überlagern, so dacht er sich, entspricht die Form der zurückbleibenden benetzten Fläche auf der Kanalwand der Form einer einzelnen solitären Welle. Doch nach dem Experiment entsprach die nasse Spur auf der Kanalwand nicht seinen Aufzeichnungen der Formen der solitären Welle. RUSSELL ließ dieses Resultat, das ihn auf eine besondere Art der Überlagerung hätte schließen lassen können, als interessantes Phänomen stehen und verfolgte es nicht weiter. In einem anderen Versuch ließ RUSSELL eine negative (nicht solitäre) Welle gegen eine gleich große positive laufen und stellte fest, daß sie sich ganz in oszillatorische Wellen "auflösten". Bei dem Versuch, eine positive Welle eine gleich große negative überholen zu lassen stellte er Analoges fest. Diese Versuche widersprechen der linearen Superposition, doch RUSSELL ging dem nicht weiter nach.

 

Es scheint, als ob RUSSELL die Andersartigkeit der solitären Welle nicht konsequent erkannt hätte, denn auch die Form seiner einzelnen Welle gab er immer mit periodischen Funktionen an. Er hatte 1836 und 1837 [Russell 1837b, 1840a] die Form der Welle mit "prolate cycloid" beschrieben (verkürzte Zykloide oder Trochoide), die für große solitäre Wellen bis zur Zykloide anwachsen kann, um bei weiterer Steigerung den "Kopf" einer verlängerten Zykloiden zu bekommen. Dieser sollte zum Brechen der Welle führen. In seiner Arbeit von 1844 hingegen meinte RUSSELL, daß die Grundform der solitären Wasserwelle der bewegte Sinus sei. Diese Behauptung erscheint zuerst merkwürdig, denn aus seinen Zeichnungen der Welle ist klar ersichtlich, daß ihre Form nicht mit einem Sinus zu beschreiben ist. Doch RUSSELL lieferte eine erklärende Theorie, die den Sinus mit seinen Zeichnungen verband. Sehr schön zeigt sich an ihr, wie RUSSELL mehr bildhaft und nicht mathematisch seine Beobachtungen erklärte. Mit Hilfe der von ihm sehr genau untersuchten Bewegung der Wassermoleküle beim Passieren der solitären Welle gelang es RUSSELL, den Sinus zu Formen zu verkürzen, die seinen Aufzeichnungen der solitären Wellen entsprachen.

 

 

 

 

Abbildung 2.5:

Aus [Russell 1844, Plate 52] entnommene Darstellungen. RUSSELLs Konstruktion der Form der solitären Welle auf der Grundfunktion des Sinus (Fig. 3). Die gegenüber der Sinusfunktion steileren Formen der höheren Wellen (durchgezogene Welle in Fig. 4) entstehen aus der Verkürzung der Sinusfunktion (gepunktete Linie) durch die Translationsbewegung der Wassermoleküle in Richtung der Wellenbewegung. Die Translationsbewegung der Moleküle an der Wasseroberfläche ist in der halben Ellipse links in Fig. 4 dargestellt. Werden die nummerierten Punkte der gepunkteten Sinusfunktion um den am unteren Rand der halben Ellipse entsprechend angegebenen Betrag nach rechts verschoben, entsteht die durchgezogene Form der solitären Welle.

 

 

RUSSELL hatte beobachtet, daß die Wellenlänge einer solitären Welle mit zunehmender Höhe der Welle bei gleicher Wassertiefe abnahm. Daher schloß er, daß die Bewegung der "Wasserteilchen" die Wellen verkürzte. Durch eine Überlagerung des Sinus als Grundform der Wellen mit der beobachteten Ellipsenhälfte der Wasserbewegung gelang es ihm, eine Form zu konstruieren, die seinen Beobachtungen entsprach. Die Abbildung 2.5 verdeutlicht RUSSELLs Konstruktion. Diese Art der Konstruktion war nicht ungewöhnlich. FRANZ GERSTNER (1756 - 1832) war in seiner vielbeachteten Arbeit [Gerstner 1804] auf ganz ähnlichem Wege zu der zykloiden Form für Wellen in tiefem Wasser gekommen.

Neben diesen grundlegenden Eigenschaften der solitären Wellen beobachtete RUSSELL weitere Phänomene. Unter anderem:

 

* Eine negative Welle hatte nicht die Eigenschaften der positiven solitären Welle. Weder Konstanz, oben beschriebene Form, noch eine Geschwindigkeit nach Gleichung (2.2) waren zu beobachten.

 

* Die maximale Wellenhöhe entsprach etwa der Wassertiefe des Kanals:

 

 

Wurde der Kanal flacher, so verringerte sich auch die maximale Höhe der Welle, die sich durch Brechen der gesunkenen Wassertiefe anpaßte.

 

* Die Höhe der Welle war abhängig von der Breite b des Kanals, falls diese entlang des Laufes des Kanals variierte:

 

 

 

* Bei nicht rechteckigem Kanalprofil galt Gleichung (2.2) nur modifiziert.

 

Mit dem Abschlußbericht des Committee of Waves 1844 waren auch RUSSELLs experimentelle Forschungen an Wellen abgeschlossen; er griff sie nicht wieder auf. Wie sehr er sich jedoch sein ganzes Leben, zumindest immer wieder, mit der "wave of translation" beschäftigte, zeigen seine Bücher über den Schiffbau [Russell 1865] und über die solitäre Welle selbst [Russell 1885]. Im Schiffbau verwendete RUSSELL die von ihm gefundenen Gesetze der solitären Welle bei der Konstruktion von Schiffsrümpfen. Und in seinem letzten Werk [Russell 1885], an dem RUSSELL, wie es das Vorwort vermuten läßt, bis zuletzt gearbeitet hatte und vor dessen Erscheinen er schon verstorben war, wandte er die von ihm gefundenen Gesetze der solitären Welle auf Luft und Äther an. Mit großer Ausführlichkeit und Hingabe lieferte er auf diese Weise einen Erklärungsversuch für die Gesetze des Schalls sowie des Aufbaus der Materie und des Weltalls. In diesem Zusammenhang gab er die Tiefe der Atmosphäre mit fünf Meilen sowie die des Weltalls mit 5 x 1017 Meilen an. Während der erste Wert recht gut stimmt, zeigen modernere Forschungen, daß RUSSELLs zweiter Wert um fünf Zehnerpotenzen zu klein ist.

 

Nach 1840 verlor die solitäre Welle allgemein an Interesse. Ihre einzige beherrschbare Anwendung lag in der schnellen Personenkanalschiffahrt, in der eine hohe Geschwindigkeit der Boote wünschenswert war. Durch die Entwicklung der Eisenbahn jedoch verloren die schnellen Kanalboote an Bedeutung und dadurch auch die solitäre Welle. Sie wurde nur noch ein rein wissenschaftliches Forschungsobjekt ohne direkte Anwendungen. Als in der Theorie unerklärtes hydrodynamisches Phänomen blieb sie jedoch interessant und wurde immer wieder Objekt von Untersuchungen. Deren Ergebnisse jedoch zeigen, daß die Welle über Jahrzehnte nicht besser verstanden werden konnte, als es RUSSELL möglich war. Im Gegenteil, das Niveau seines anschaulichen Verständnisses blieb lange unerreicht. Ein theoretisches Begreifen der solitären Welle war RUSSELL jedoch unmöglich und so wurde den Mathematikern dieser Zeit ein Problem zur Bearbeitung übergeben, das anschaulich gut erklärt und experimentell hervorragend vorbereitet war. In den folgenden Jahrzehnten gab es einige mathematische Erklärungsversuche. Doch einen Durchbruch erfuhr die Theorie der solitären Welle erst 1871 durch BOUSSINESQ. Das Entstehen dieser Theorie kann jedoch nur vor dem Hintergrund einer 50 Jahre währenden und manchmal stockenden, aber nicht abreißenden Diskussion um die Natur der solitären Welle verstanden werden.

 

 

Weiter mit Kapitel 2.2: Diskussionen über die Natur der solitären Welle

 

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